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Gastbeitrag Veit Lindau

Ostern – im Feuer stehen

In deinem Feuer stehen – Ostern ganz persönlich nehmen.

Kreuz und Erlösung im menschlichen Alltag.

Ostern. Ein spannendes Datum – überlagern sich hier doch zwei mächtige Mythen der Menschheit.

roete

Lange vor den Christen feierten naturverbundene Stämme in diesen Tagen die Fruchtbarkeit des Lebens. Das deutsche Wort Ostern leitet sich vom altgermanischen Austrō für „Morgenröte“ ab, das eventuell ein germanisches Frühlingsfest bezeichnete. Der Wortstamm ist auch mit dem altgriechischen ēōs (Göttin der Morgenröte) verwandt. So spüren viele Menschen um diese Zeit herum eine Aufbruchsstimmung, eine neue Lust, hinauszugehen, zu wachsen, zu erschaffen – sich von den fruchtbaren Kräften des Lebens mitreißen zu lassen.

Doch in diesen Tagen wird noch ein weiterer Mythos geehrt und gefeiert – Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi – das älteste Fest der Christen. Dieser Newsletter geht an sehr viele, sehr verschiedene Menschen. Er wird von Christen, Buddhisten, Hindus, Moslems, Juden, Atheisten und Agnostikern und, und, und… gelesen.

kreuzigung

Es kann sein, dass du die Geschichte des einfachen Zimmermannes Jesus wortwörtlich glaubst, dass du sie belächelst oder auf deine ganz persönliche Weise interpretierst. Ich achte religiösen Glauben. Ich bin überzeugt, dass wir im Kern einer jeden Religion Botschaften finden können, die uns alle betreffen. Sie offenbaren sich, wenn wir mit dem Herzen lesen, anstatt mit dem urteilenden Verstand.

Ich bin in einer scheinsozialistischen Kultur groß geworden. Für Gott gab es keinen Raum. Das hatte für mich später seine Vorteile. Denn nachdem die Mauer fiel, konnte ich mich als neugieriger, 20jähriger Mann ohne Vorbehalte auf alle spirituellen Mythen der menschlichen Geschichte stürzen. Ich habe in ihnen nach Wahrheit, nach Berührung und nach Vorbildern gesucht. Dabei begriff ich, dass sich der Sinn vieler alter Geschichten erst offenbart, wenn wir sie persönlich nehmen. Wenn wir sie als einen kollektiven Traum betrachten, von der Menschenseele geträumt und von Generation zu Generation weiter erzählt.

Dem rationalen, selbstverantwortlichen Geist in mir war und ist es immer noch suspekt, warum ein anderer Mensch (Jesus) vor über 2000 Jahren für meine Sünden am Kreuz gestorben sein sollte. So war es mein Zen- und Advaitalehrer, der mir das Kreuz dann doch nahebrachte, in dem er mich fragte:

„Wo weigerst du dich, dich freiwillig ans Kreuz zu nageln?“

Diese Frage ist natürlich erklärungsbedürftig. Wir leben in einer Wohlfühlkultur. Alles – vom Essen, über Technik, Medien und New-Age-Zirkus – ist darauf angelegt, es uns möglichst leicht zu machen. Wir wollen uns gut, stark, zuversichtlich, jung und im Licht fühlen. Dass dies nur die halbe Wahrheit eines menschlichen Lebens ist, wissen wir alle. Jeder von uns hat auch eine emotionale Achillesferse, an der er tief verwundbar ist.

Meist sind es Schmerz, Angst oder Ohnmacht.

Diese Erfahrungen sind die unwillkommenen Gäste auf jeder Wir-sind-immer-gut-drauf-Party. Wir verdrängen sie mit Arbeit, positiven Affirmationen und Geschwätz. Wir bekämpfen sie mit Konzepten und Pillen. Wir wollen sie nicht fühlen – und genau diese Nichtbereitschaft, alles zu fühlen, macht uns schwach und manipulierbar.

Denn warum tust du Dinge, von denen du genau weißt, dass sie dir nicht gut tun?

Warum haben Süchte die Macht, ein Leben zu zerstören?

Warum gibst du kurz vor dem Erfolg auf?

Warum bist du nicht immer ehrlich?

Warum gehst du hin und wieder den leichten, aber falschen Weg?

Warum bleibst du zu lang mit Menschen zusammen, die dir nicht gut tun?

Warum verrätst du dich selbst?

Warum lässt du deine Mission, deinen Traum zu schnell los?

Warum fühlt sich dein Leben manchmal so angespannt an?

Weil du in all diesen Situationen an einen Punkt kommst, an dem du etwas fühlen müsstest, was du nicht fühlen willst.

Zum Beispiel den Schmerz des Alleinseins im Moment einer einsamen Entscheidung. Oder die Angst vor dem, was passiert, wenn du deine Komfortzone verlässt. Oder die Ohnmacht, wenn dein ganzes Üben dich scheinbar nicht weiterbringt.

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Was hat das mit dem Kreuz zu tun?

Es gibt Erfahrungen, die kannst du nicht schön reden, wegklopfen oder negieren. Stumm stehen sie an der Schwelle deines Bewusstseins und warten darauf, von dir erfahren zu werden. In einer Wohlfühlgesellschaft scheint es absurd, regelrecht verrückt, sich aus freien Stücken ins Feuer deiner unangenehmsten Gefühle zu stellen. Es ist… als ob du dich freiwillig ans Kreuz deiner Integrität nagelst.

Warum sollte das ein Mensch aus eigenem Antrieb tun?

Weil er müde ist – vom Weglaufen vor sich selbst. Weil er wissen will, wer er ist, wenn er stehen bleibt und alles fühlt. Wenn du möchtest, lies an diesem Wochenende die Geschichte der Kreuzigung aus dieser persönlichen Perspektive. Deute sie als (d)einen Traum, in dem jeder der Protagonisten einen Anteil von dir verkörpert.

Welche innere Stimme verkörpert Judas in deinem Leben? In welchen Situationen, für welche Argumente verrätst du dich?

Entrüste dich nicht mehr über die Jünger, die in der Nacht vor der Kreuzigung einschlafen und Jesus im Stich lassen. Frage dich: An welchen entscheidenden Stellen deines Lebens schläfst du immer noch ein und lässt dich selbst im Stich?

Weißt du, welches Kapitel mich in dieser Geschichte am meisten berührt?

Es ist der Moment in jener Nacht, als Jesus darum bittet: „Und wenn dieser Kelch irgendwie an mir vorüber ziehen kann…“ Das ist der Augenblick, der ihn mir so nah bringt. Wer von uns ist schon scharf darauf zu leiden? Er will nicht ans Kreuz – genau wie wir. Und doch gibt er sich letztendlich freiwillig hin.

In welchen Situationen deines Lebens weißt du, ahnst du, dass du nicht umhin kommen wirst, dich bestimmte Erfahrungen zu stellen?

In der Beziehung mit dir selbst? Privat? Beruflich? Spirituell? Vor welcher Erfahrung läufst du manchmal noch weg?

Sich freiwillig ans Kreuz zu nageln, bedeutet, stehen zu bleiben: „Ich habe genug gekämpft. Ich möchte JETZT wissen, wer ich bin, wenn ich mich dieser Erfahrung stelle. Ich öffne meine Tür für den ungebetenen Gast.“

Jesus Kreuzigung ist kein schillernder, heroischer Showdown.

Es ist ein so verdammt verletzbares, so menschliches und deshalb fast unerträgliches Leiden. Und genauso fühlt es sich an, wenn wir uns unseren Dämonen stellen. Wenn wir die Einsamkeit fühlen, anstatt uns abzulenken. Wenn wir die Traurigkeit kommen lassen, anstatt weiter blöd zu grinsen. Wenn wir zugeben, dass wir gerade nicht weiter wissen, anstatt blind zu funktionieren. Wenn wir einfach nur Angst haben, anstatt uns einzureden, dass schon alles gut wird.

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Meine Klienten erzählen mir viel aus ihrem Leben und manchmal höre ich Dinge – die machen mich ganz still. Dann weiß ich: Hier ist kein guter Ratschlag, keine schlaue Technik angesagt. Hier hängt jemand an seinem Kreuz – sei es ein Missbrauch, eine schlimme Krankheit, ein behindertes Kind,…

Ich sehe Menschen verbittert dagegen kämpfen und ich kann sie so gut verstehen. Und ich erlebe manchmal Menschen, die diese, ihre Herausforderung in einer so schlichten, starken Würde nehmen, die ich nur (ich hoffe, du verstehst mich richtig) als wunderschön bezeichnen kann.

Unsere Kreuze lassen sich nicht miteinander vergleichen. Jeder hat seins. Im Kern geht es immer um die Herausforderung, etwas bewusst zu erfahren, was uns eigentlich unerträglich erscheint.

Die Kraft der Kreuzigung liegt in der Nüchternheit und in der bedingungslosen Hingabe.

Er, der Mensch, kämpft nicht mehr. Er heißt alles willkommen. Er leidet, doch er jammert nicht. Er fühlt nüchtern alles, was dazu gehört. Und dieses nüchterne Im-Feuer-Stehen ist es, was ihn und uns letztendlich befreit.

Ich tauche nicht gern in unangenehme Gefühle ab. Ganz ehrlich, mir geht es lieber besser als schlechter – wenn du weißt, was ich meine. Ich stehe mehr auf die Sonnentage. Alles andere wäre gelogen. Doch manchmal, wenn ich spüre, dass ein dunkler Gast vor meiner Schwelle steht – Wut, Trauer, Ratlosigkeit, was auch immer – und ich versucht bin, die Tür zu verbarrikadieren, dann hilft mir das Symbol vom Kreuz, mich doch hinzugeben. Ich breite innerlich meine Arme aus. Ich öffne mein Herz, mache mich verwundbar und sage: „Komm, Erfahrung, sei auch du mir willkommen.“

Es gelingt mir bei weitem nicht immer. Manchmal springe ich in letzter Minute vom Kreuz und beginne wieder zu kämpfen oder zu rennen. Doch ich stand mittlerweile oft genug bewusst im Feuer, um zu wissen:

Nach der Schwelle der Unerträglichkeit kommt die Hingabe und sie schenkt den Frieden.

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(Skulptur: Paige Bradley. Expansion)

Denn auch das kannst und solltest du an dieser großartigen Geschichte persönlich nehmen:

Der Mensch ließ sich freiwillig kreuzigen.

Er starb in seinem alten, begrenzten Ich. Und… er wurde wiedergeboren.

In diesem Sinne wünsche ich allen, die gerade noch nicht in perfekter Frühlingsaufbruchstimmung sind…

Hingabe an das, was ist…

Ein Fühlen aller Gäste im Haus deiner Seele…

Frieden mitten im Feuer…

Und eine baldige Auferstehung.

Frohe Ostern! Veit

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