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Joël Marchesan

Roland erzählte mir einmal auf dem Weg: Die Pilgerreise ist wie ein Leben im Schnelldurchlauf. Am Anfang bist du geboren, weißt nichts, lernst zu laufen, zu sprechen (wirklich zu sprechen) und die kleinsten Dinge sind lebensformende Erfahrungen; jede Herberge, jede Tagesstrecke und jeder dahergelaufene Hund. Danach bist du ein Jugendlicher voller Selbstbewusstsein. Du denkst, dass du unbesiegbar, unzerstörbar bist, und dann übernimmst du dich (zu viel gelaufen, zu schnell, zu wenig getrunken etc.)

Das Erwachsenwerden trifft ein. Jetzt läuft es sich mit echter Sicherheit. Deine Grenzen sind ausgelotet. So läuft es sich gefühlt sehr schnell immer näher ans Ziel. Deine Ratschläge, die dir am Anfang so wichtig waren, helfen jetzt "jungen" Pilgern ihre Reise sicher zu gestallten. Das Ende naht  und du wirst alt. Am Ende gehst du erschöpft und zufrieden über ein gut gelebtes Leben in die Kathedrale von Santiago de Compostela. Es ist vorbei. Die Reise ist hinter dir. Doch der wahre Camino fängt erst zu Hause an.

 

Die Wahrheit in diesem Vergleich sollte sich wieder und wieder beweisen. Das erste Mal, als ich das wirklich verstand, war auf der Grenze zu Spanien. 

 

Der Tag fing wie fast jeder in den Pyrenäen -mit grauen Wolken und Nieselregen- an. Die Berge wirkten mystischer als an den Vortagen; es fühlte sich an wie ein fernes Zwergengebirge mit einem schlummernden Drachen in seinen Wäldern.

Unser Ziel war es den Somportpass zu überqueren. Nach kaum einer Stunde meinte Roland, ich solle vor laufen, weil er den steilen Aufstieg (ca.1000 m) gemächlich angehen möchte; Einer seiner Grundsätze war es, dass jeder von uns sein eigenes Tempo laufen sollte. So setzte ich meinen Weg nach Spanien alleine fort. Auf der ganzen Strecke sah ich Niemanden, nur eine Kuh, die sich zufrieden an einer Mülltonne rieb, um sich am Ohr zu kratzen. 

Schon seit Tagen freute ich mich auf Spanien. Meine Vorstellungen waren so farbenfroh und heiter, dass ich es scherzhafter Weise "das gelobte Land" nannte. 

"In Spanien werde ich gleich anfangen Spanisch zu lernen, damit ich endlich mit den Leuten in den Dörfern reden kann!" -in Frankreich tat es mir sehr leid die Freundlichkeit nur mit einem "Merci beaucoupe!" erwidern zu können- "Und der Kaffee! Endlich gibt es wieder guten Kaffee!" - in Paris mag es eine Kaffeekultur geben, aber auf dem Weg in Frankreich gab es nur Sockenwasser; so nannten Roland und ich das fürchterliche Instantgebräu, was es in jeder Herberge gab. Es sah wirklich ein wenig aus wie das Wasser, das nach einem langen Marsch beim Waschen aus den Socken austritt, und wirklich besser schmeckte es auch nicht.

Dann kamen mir noch alle Leute in den Kopf, die ich treffen könnte; in Spanien ist der Jakobsweg etwas dichter besiedelt. So lief ich mir die Zukunft im gelobten Land ausmalen in die Wolkenschicht hinein - ich hatte im wahrsten Sinne den Kopf in den Wolken. 

Der Nebel war dicht und ich konnte keine 200 Meter weit sehen. Jedoch fühlte es sich eher wie eine gemütliche Decke um mich herum an. Die Geräusche waren sanfter, die Blumen schienen durch das Grau noch bunter und alles wirkte umso mehr mystisch. 

So schnell wie ich in dem Wolken war, ging es auch wieder heraus und auf der anderen Seite befand er sich: Der Col du Somport

Der Weg mündete in einen großen Parkplatz mit einem backsteinernem Zollhäuschen und dahinter ein blaues Schild mit der Aufschrift: España 

Ein paar Schritte weiter konnte ich kilometerweit nach Spanien herunterblicken. Da lag mein gelobtes Land direkt vor mir und seltsamerweise fühlte es sich auch an, als wäre ich erst auf dem Jakobsweg angekommen. Die eigentliche Reise sollte erst beginnen. Meine Kindheit ist vorbei und ich werde meine ersten selbstständigen Schritte tun.

Wie es das Schicksal wollte meinte Roland, als er endlich auch oben angekommen war, dass er eine Pause bräuchte und wir ab dem nächsten/übernächsten Tag getrennter Wege gehen würden. Er hatte mir vieles beigebracht und bin ihm bis heute dankbar für alles, was er mir erzählte.

Wir alberten noch etwas herum, machten Fotos und ich trank endlich meinen langersehnten spanischen Kaffee. 

In der Herberge angekommen, beschaffte ich uns mit meinem Spanischbuch ein Zimmer. An diesem Tag ging ich mit dem Gefühl ins Bett ein neues Kapitel angefangen zuhaben und endlich zu Hause zu sein.

 

Joël Marchesan

Über den Autor:

Mein Motto:
Ein Schiff im Hafen ist sicher, aber dafür werden Schiffe nicht gebaut.
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