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Joël Marchesan

Niemand läuft ohne Grund hunderte Kilometer zu Fuß durch Regen, Hitze, Hunger und Erschöpfung. Jeder Mensch, den ich auf dem Jakobsweg kennen lernte, trug sein eigenes Paket mit im Rucksack. Es waren Dinge wie Krebs, der Verlust eines Geliebten (oder sogar der ganzen Familie), der Verkauf des eigenen Unternehmens und Lebenswerkes oder eine Suche nach Sinn in einer Welt, die man zu jung ist zu verstehen. So unterschiedlich wie diese Bleigewichte im Rucksack der Pilger sind, so sind ihnen zwei elementare Dinge gemein: Es sind Löcher in den Herzen der Menschen und (ein bisschen offensichtlich, aber nicht trivial) sie sind keine greifbaren Objekte, die man auspacken und wegschmeißen kann.

Wie soll man nun bloß diese schweren Steine, die man nicht greifen kann, wegwerfen? Eine Geschichte, die mir (und vielen anderen) wieder den Glaube an Magie schenkte, war tatsächlich in der Lage ein solches Wunder zuvolbringen. 

Pawel erzählte mir, als wir zum ersten Mal zusammen liefen, von den zwei Steinen:

Auf dem Weg sollst du einen weißen und einen schwarzen Stein finden oder genauer gesagt sie finden dich. Er meinte mit seinem gespielten russischen Akzent: "You kno' vhen you find see. They com' to you, comrade!" -gut, das ist ein bisschen übertrieben, aber ungefähr so hatte er es mir erzählt. 

Der weiße Stein ist alles Gute, was dir widerfahren ist und was du in dir trägst. Dieses Symbol, was mich sofort an das Yin im Taoismus erinnerte, sollst du für immer behalten und es mit allem Guten anreichern, das dir begegnet. 

Der schwarze Stein ist im Umkehrschluss das Schlechte und das Böse, was du erfahren oder getan hattest -dein ätherisches Bleigewicht, die unberührbaren Steine im Rucksack. Diesen trägst du auch ein Weilchen mit dir, bis du alles, den ganzen Schmerz, die Fehler,  den Verstorbenen, das eigene Vermögen böse und (selbst)zerstörerisch zu sein, loslassen kannst. Erst dann kannst du diesen schwarzen Fleck auf deinem Herzen wegschmeißen; das ist nicht einfach.

Alexander Solschenizyn beschrieb dieses schmerzvolle Loslassen mit diesen Worten: "Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?" 

 

Es war ein unangenehmer Prozess den Teil, der mich immer an mein Versagen im Studium, meine verblichenen Lieblingsmenschen und an verlorene Liebe erinnerte, zu entfernen.

Das Gefühl hässlich und unliebenswürdig zu sein, welches sich dank einer schweren Akne seit meinem 12. Lebensjahr kultivierte, der Glaube schwach und unfähig zu sein, weil ich mein Studium abbrach, und das Schuldgefühl mein Leben und Potential als Hochbegabter undankbar verschwende; das war Teil meines Lebens. Meine Handlungen richteten sich nach diesen Glaubensansätzen und diese Gewohnheiten zu lösen bedeutet einen Teil meiner Persönlichkeit zu opfern. Dazu kam die Tatsache, dass im Licht all diese "Probleme" lächerlich wirken und es keine Gloria oder Auszeichnung für dieses Opfer zur Belohnung gibt.

Meinen Stein warf ich irgendwann in irgendein Feld in der Mitte von irgendwo ;es fühlte sich an, als sei der Eissplitter in meinem Herzen geschmolzen und eine Welle der Wärme mir wieder Leben einhauchte. Ich fühlte, wie meine Seele zu heilen begann. Wie ein verängstigtes Kind in die beruhigende Umarmung seiner Mutter kam ein verlorengeglaubtes Stück von mir zu mir zurück. Dieser Moment war für jeden anderen Menschen unfassbar unbedeutend, doch dieses Irgendwann und Irgendwo waren in meiner Welt der Moment und der Ort meiner Befreiung.

Das ist für mich die Magie des Lebens. Zwei bedeutungslose Steine, eine niedliche Geschichte und ein fast kindlicher Glaube an den Sinn in solchen Dingen, das bringt plötzlich die uberührbare Last in die Realität, damit man sie loswerden kann. Magie ist das einzige Wort, das mir für einen solchen Trick in den Sinn kommt. Aus Blei wird Gold und aus zwei herumliegenden Steinen entsteht der wertvollste Schatz von allen: Freiheit seine eigene Geschichte zu wählen

 

Selbstverständlich ist die Erleuchtung und ein bedeutungsvolles Leben mehr als einen Steinwurf entfernt. Ich werde immer noch von Selbstzweifel und Gefühlen der Unzulässigkeit heimgesucht, jedoch weiß ich jetzt, dass solche Stimmungen nicht halten und meine Geschichte nicht definieren.

Es befindet sich nur noch der weiße Stein auf meinem Schreibtisch und sowas nimmt er nicht auf.

 

- Joël Marchesan

Über den Autor:

Mein Motto:
Ein Schiff im Hafen ist sicher, aber dafür werden Schiffe nicht gebaut.
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