Du siehst hier einige Artikel aus unserem Journal.
Damit Du alle Artikel ansehen kannst, melde Dich bitte HIER an.

Joël Marchesan header
Joël Marchesan

 

Puente la Reina, der Verbindungspunkt zwischen Camino Aragonès und Camino Francès, hier kam ich auf die berüchtigte "Autopista de los perregrinos" (Pilgerautobahn).

Bis dort hin sah ich maximal 5-10 Pilger beim wandern; alle aus meiner Pilgerfamilie. Nun checkte ich in eine Herberge ein, die 200 Pilgern Platz bot und tatsächlich fast voll belegt war. Teilweise gab es Schlafsäle mit 50 Stockbetten, die so dicht aneinander gestellt waren, dass eine dicke Person unmöglich die Reihen hätte passieren können (Auch ein guter Ansporn abzunehemen).

Es war, als hätte sich der Weg von einem Pilgerdorf mit 15 Einwohnern in eine komplette Stadt entwickelt. Jeden Tag liefen wir an dutzenden Pilgern  vorbei, die wir nicht kannten. Alle fünf Minuten grüßten wir jemanden mit "Buen Camino!". Bald fühlte sich der Pilgergruß nur noch wie eine lose Floskel an. Ähnlich wie das "Hallo", wenn man das Wartezimmer beim Arzt betritt. Fast hätte sich bei mir diese gewisse Anonymität gefestigt, die ich aus der Großstadt gewohnt bin:

Tausende Menschen. Es ist unmöglich alle zu kennen. Also spreche ich erst keinen an und plötzlich ein Gefühl der Einsamkeit inmitten einer Millionenstadt.

 

Es ging ein paar Tage so, bis ich realisierte, dass meine Pilgerfamilie einfach nur zu einer Großfamilie gewachsen ist. Immerhin sind mir meine eigenen Cousins oder teilweise Onkel und Tanten wie fremd. Trotzdem empfinde ich Zuneigung und Hilfsbereitschaft für sie, wieso also nicht auch mit meinen Mitläufern?

Dieser Gedanke löste ein unvergleichliches Gemeinsamkeitsgefühl in mir aus. Von einem Tag auf den anderen wanderte ich nicht mehr unter Fremden, sondern unter Gleichgesinnten. Mir fiel die Hilfsbereitschaft meiner entfernten Verwandten auf und ich merkte, wie ich selbst immer hilfsbereiter wurde. 

Ein Arzt, der den Weg lief, behandelte fast täglich die Laufbeschwerden seiner Weggenossen, am Wegesrand stellten Hilfsbereite einen Stand mit gratis Wasser und Obst für Pilger, die von der Hitze überrascht wurden, zur Verfügung und die Meisten hatten ein Ohr für die Probleme der anderen Pilger. So kam es auch bei mir vor, dass ich einmal zu viel kochte und einen unglücklichen Zuspätkommer eine Mahlzeit geben konnte, oder als ich einmal vergaß Proviant einzupacken etwas zu essen von einem freundlichen Amerikaner bekam. 

Selbst die ein oder andere Lebensgeschichte wurde mir im Laufe einer gemeinsamen Wanderung zuteil. 

Das Gefühl der Verfremdung hatte sich komplett auf den Kopf gedreht. Großstädte schüchterteten mich zwar immer noch ein mit den großen Menschenmassen und der höheren Geschwindigkeit, in der alles geschieht, doch das geschah höchstens ein Mal pro Woche.

Der Begriff "Pilgerautobahn" bekam einen anderen Geschmack. Abgehetztes laufen mit zu vielen Fremden und schlafen in überfüllten Räumen entwickelte sich zu Möglichkeiten jeden Tag neue Geschichten zu hören und mit neuen Bekannten zusammen zu essen. 

Ja, es war von dort an wie eine Autobahn. Ständig nahm jemand eine Ausfahrt und verließ den Weg und ein anderer nahm eine Einfahrt und war dabei. Von Zeit zu Zeit bildeten sich "Konvois" und lösten sich wieder auf. Diese Erfahrung hilft mir heute in großen Gruppen die Nerven zu behalten und schnell Kontakte zu knüpfen.

Es erstaunt mich immer wieder wie dankbar die meisten Menschen sind, wenn ich sie anspreche und ihnen zuhöre. 

 

- Joël Marchesan

 

Ein leicht belaufener Abschnitt auf er Autopista de los perregrinos

 

 

Über den Autor:

Mein Motto:
Ein Schiff im Hafen ist sicher, aber dafür werden Schiffe nicht gebaut.
eMail:
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!