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Oliver Domröse

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Narzissmus und Hochsensibilität – und was hat das alles mit Selbstliebe zu tun?

Fragst Du dich manchmal, ob es einen Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Narzissmus gibt? Und was der Unterschied zwischen Egozentrik und gesunder Selbstliebe ist?

Heute erfährst du es!

Als Reaktion auf meinen letzten Artikel, in dem ich versucht habe aufzuzeigen, warum Hochsensible in Beziehungen immer wieder an Narzissten geraten, gab es einige Kommentatoren, die behaupteten, dass Hochsensibilität nichts anderes als eine Art versteckter Narzissmus sei, quasi ein verdrängter Anteil, den wir nicht wahrhaben wollen („Schatten“) und wir deshalb in Beziehungen so oft an ausgeprägte Narzissten geraten.

Diese Aussagen ließen mich hellhörig werden. Weil mir diese Frage selbst schon durch den Kopf ging.

Deshalb habe ich mich hingesetzt und mir ein paar Gedanken dazu gemacht.

Ist es wirklich so und welche Anhaltspunkte könnte es geben, die zu solchen Aussagen führen?

Dabei bin ich auf 3 Charaktermerkmale gestoßen, die auf den ersten Blick tatsächlich eine hohe Übereinstimmung mit den Verhaltensweisen von Narzissten aufweisen: Kränkbarkeit, Scham, Egozentrik

(mir sind noch mehr Merkmale eingefallen, aber diese drei halte ich für wesentlich).

Ich heutigen Artikel möchte ich mir mit dir zusammen diese 3 Persönlichkeitsmerkmale etwas genauer anschauen und dabei der Frage nachgehen, ob es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Narzissmus und Hochsensibilität gibt?

1. Kränkbarkeit (Empfindlichkeit)

Im hochsensiblen Kontext:

Ich verstehe es so. Aufgrund unseres genetisch bedingten ausgeprägteren Nervensystems sind wir nicht nur empfänglicher und empfindsamer für Umweltreize, sondern eben auch für emotionale Aussagen, Stimmungen und Worte von anderen. In bildgebenden Verfahren der Hirnforschung konnte mittlerweile festgestellt werden, dass bei Hochsensiblen durch äußere Reize andere Hirnareale aktiviert werden, als bei der Bevölkerungsmehrheit. Die Autorin Ulrike Hensel* schreibt dazu sehr treffend: „Aus einer höheren Empfindsamkeit ergibt sich eine höhere Empfindlichkeit und aufgrund der höheren Empfindlichkeit werden diese Menschen auch heftigere Reaktionen auf verschiedene Reize selbst verspüren und an den Tag legen.“

Für mich folgert sich daraus, dass wir Aussagen sofort als zu persönlich aufschnappen können, leicht beleidigt oder eingeschnappt sind. Mitunter auch nachtragend oder sehr gereizt sind, hochnäsig oder arrogant erscheinen können. Ich kenne es stellenweise von mir. Mittlerweile würde ich es als vorübergehende Schutzreaktion interpretieren. Schutz vor den einströmenden Reizen und Worten, die zunächst einmal zu viel sind. In der anschließenden Nachbearbeitung, zuhause oder an einem ungestörten Ort, wo das Geschehene nach verarbeitet und reflektiert werden kann, beobachte ich oftmals, dass ich versuche, mein Gegenüber für sein Verhalten zu verstehen, und gleichzeitig mein eigenes Verhalten zu hinterfragen, ob ich beispielsweise mal wieder überreagiert habe. Ich versuche also die Perspektive von mindestens zwei Menschen einzunehmen. Verständnis und Empathie für beide Positionen aufzubringen. Genau hier liegt aus meiner Sicht der entscheidende Unterschied zu einer narzisstischen Persönlichkeit.

Im narzisstischen Kontext:

Ein ausgeprägter Narzisst kann nämlich in keinster Weise Verständnis oder gar Empathie für sein Gegenüber aufbringen. Da ist einfach nichts. Ein totaler Ausfall. Um nicht aufzufallen, entlarvt zu werden, können Narzissten jedoch Mitgefühl und Verständnis vorspielen.

Ein Narzisst ist gut im Austeilen von persönlicher Kritik und herabsetzenden Sprüchen. Diese Verhaltensweise dient ihm als Mechanismus, um andere klein zu machen, neben sich als unbedeutend und winzig erscheinen zu lassen. Dies hilft ihm beim Kompensieren seines unterschwelligen Minderwertigkeitsgefühls. Er macht andere klein, um sich selbst groß zu fühlen.
Wenn es ums „Einstecken“ geht, sieht das ganz anders aus. Auf jedwede Art von Kritik, egal wie sachlich, wohlmeinend oder vorsichtig sie vorgetragen wird, reagiert ein Narzisst mit sofortiger Kränkung – meist einhergehend mit Wut und Hassgefühlen auf den Kritiker. Ein Narzisst kann eine hilfreiche Anregung oder eine gutgemeinte Empfehlung nicht als solche aufnehmen. Er ist so mit dem Selbstbild der Perfektion, des Größenwahns und der Allwissenheit identifiziert, dass er jede Kritik als Angriff auf seinen Selbstwert und seiner herrlichen Größe auffasst. Er kann sich in keinster Weise in die Position seines Gegenübers hineinversetzen. Ihm fehlt vollkommen die Fähigkeit der Selbstreflexion, weil er so mit sich und der Verteidigung seines fragilen Selbstwertes beschäftigt ist.

Diese permanente Angst vor Missachtung und Kritik zwingt ihn in eine Position einer starren Abwehrhaltung. Ständig ist er auf der Lauer, hat einen regelrechten Radar entwickelt, um jedwede Form von Kritik, Missachtung oder Anzweifeln seiner Ansichten sofort im Keim zu ersticken. In diesem Zusammenhang kann man von einer Hypersensibilität sprechen, im Vergleich zu einer Hochsensibilität. Der ausschlaggebende Unterschied liegt für mich darin, dass ein Narzisst sich diese hypersensible Abwehrhaltung aneignet, um jede Art von Missachtung und Kritik an seiner Person aufzuspüren, die er als Majestätsbeleidigung auffasst. Er ist dann von Hass- und Rachegelüsten durchdrungen, kann nicht vergeben und sieht vor allen Dingen einzig und alleine seine Position. Er fühlt sich immer im Recht – und gleichzeitig ungerecht behandelt!

Zusammengefasst: Ein Mensch mit einer hochsensiblen Anlage besitzt in der Regel die Fähigkeit der Selbstreflexion, auch in kränkenden Momenten – ein Narzisst nicht!

2. Scham

Im hochsensiblen Kontext:

Eine stark ausgebildete Scham ist ein zentrales Thema für viele Hochsensible. Dies hängt meist mit Erfahrungen aus der Kindheit zusammen, bei denen die Eigenheiten einer hochsensiblen Anlage nicht ausreichend gewürdigt wurden. Wenn ein Kind, allen voran ein hochsensibles, in seinen Bedürfnissen und Gefühlen nicht ausreichend wahrgenommen wird, eventuell sogar dafür abgelehnt oder bestraft wird, vertraut es irgendwann seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr. Ein Kind kann in diesem frühen Stadium nicht unterscheiden, ob diese Ablehnung an seiner Bezugsperson oder an ihm liegt. Es registriert lediglich, dass es mit seinen Gefühlen so nicht sein darf, weil es dann nicht wahrgenommen und geliebt wird. Das Kind bezieht das sofort auf sich und entwickelt dadurch ein falsches Selbstbild: Ich bin falsch, so wie ich bin. Von nun an beginnt es seine Umgebung genau zu beobachten. Das Kind scannt seine Bezugspersonen, deren Mimik, Verhaltensweise, Körpersprache und versucht schon im Ansatz zu erkennen, was die Anderen von ihm wollen oder erwarten. Und verhält sich anschließend genau nach deren Erwartungen, weil es dadurch die existenziell notwendige Aufmerksamkeit und Zuwendung erhält.

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Wenn eine Mutter beispielsweise es nicht ertragen kann, wenn ihr Kind weint und deshalb versucht ihr Kind zum Lachen zu bringen, verlernt das Kind das Vertrauen in die eigenen Gefühle. Es schämt sich für sein Gefühl der Traurigkeit. Und versucht gleichzeitig die Mutter zum Lachen zu bringen, obwohl im eher zum Heulen zumute ist. Das Kind verstellt sich und trägt von nun an eine Maske. Es ist nicht mehr authentisch. Aufgrund des Gefühls der Scham und der Ablehnung. Diese Überzeugung (Glaubenssatz) kann so verinnerlicht werden, dass es das ganze weitere (Beziehungs-)Leben prägt. Das Kind und der spätere Erwachsene werden immer schauen, was andere von ihm erwarten, dass Gefühl der Scham wird immer größer, weil es sich im Kern seiner Identität eigentlich komplett falsch fühlt. Der Nährboden für spätere Co-abhängige Beziehungen ist gelegt: der mittlerweile Erwachsene versucht sich immer zunächst an dem zu orientieren, was andere von ihm erwarten oder wollen (Partner, Vorgesetzte, Freunde etc.) Weil nur das ihm ein (falsches) Gefühl von Sicherheit und Anerkennung gibt.

Im narzisstischen Kontext:

Nach meinen Recherchen liegen die Ursachen für eine narzisstische Scham in einem ähnlichen Ursprung begründet wie bei der eben skizzierten hochsensiblen Scham. Doch der Umgang mit diesem falsch herausgebildeten Selbstbild aus Kindheitstagen ist bei einem Narzissten ein  anderer. Wer, wie ein Narzisst, ständig mit einem idealisierten Selbstbild identifziert ist, damit einhergehend ständig auf die Bewunderung von außen angewiesen ist, den schmerzt es besonders, wenn das wahre, fragmentierte Selbst zum Vorschein kommt, das mit tiefer Scham und Schmerz verbunden ist. Bei einem gefestigten und integrierten Charakter gibt es Situationen, bei denen man sich für einen gewissen Anteil von sich selbst schämt, andere Anteile von sich aber nach wie vor wertschätzen kann. Es ist nach wie vor ein differenzierter Blick auf sich selbst, seine Stärken und Schwächen, möglich. Nicht so bei der narzisstischen Scham. Sie geht viel tiefer und ist vor allem viel umfassender: Der Narzisst schämt sich, weil er ist.  Die Scham bringt ihm mit seiner inneren Leere und dem nicht vorhandenen inneren Kern (Selbst) in Berührung.

Mit einem normal entwickelten Selbstwertgefühl können dich Bewertungen von anderen in deiner Identität, in deinen Grundfesten, nicht erschüttern. Du regst dich vielleicht darüber ein wenig auf, denkst darüber nach, beschäftigst dich ein paar Tage damit und gleichst diese „Fremdeinschätzung“ mit deiner Selbstwahrnehmung ab. Du fühlst dich aber deshalb nicht sofort als ganze Person, als eigenständiges Individuum, abgelehnt. Du behältst den Blick für eine differenzierte Betrachtungsweise bei.  Du bist mit deinem Sein und deinem Wesenskern nach wie vor verbunden und davon kann dich nichts und niemand abbringen.

Ganz anders bei einem ausgeprägten Narzissten. Dieses Gefühl der anhaltenden Verbundenheit mit seinem Wesenskern bei Bewertungen erfährt der Narzisst nicht, weil dieser Kontakt zum „Urgrund“ komplett verloren gegangen ist. Bewertungen und Kritik von außen erschüttern einen Narzissten in seiner ganzen Identität. Er fühlt sich wertlos. Er schämt sich. Er kann nichts gegen die Kritik durch andere setzen, weil da einfach nichts ist, als die bereits erwähnte innere Leere. Diese tief im Inneren empfundene Scham schmerzt natürlich ungemein. Genau dieses Aufdecken eines existenziellen Schamgefühls versucht ein Narzisst mit allen Mitteln zu vermeiden.

Hier setzt aus meinem Verständnis der Unterschied zwischen einer hochsensiblen und narzisstischen Scham ein, nämlich im Umgang mit derselben in Beziehung und Alltag. Scham taucht nur im Umgang mit anderen Menschen auf und gehört zu den Grundgefühlen wie Angst, Trauer, Wut, Freude. Es ist unvermeidlich, dass diese Gefühle immer wieder aufkommen. Entscheidend ist hierbei nicht, ob sie auftauchen, sondern wie ich beim Auftauchen damit umgehe.

Der Prozessbegleiter Dr. Buddhas schreibt dazu: „Die narzisstische Scham vereinigt das Gefühl der Unzulänglichkeit verbunden mit der Einschätzung, dass diese Unzulänglichkeit von anderen wahrgenommen werden kann, und der fortlaufenden Beurteilung deiner selbst als unzureichend, als nicht genug.“

Das Gefühl der Unzulänglichkeit kann ein Narzisst natürlich in keinster Weise ertragen, da er sich aufgrund seines idealisierten Selbstbildes immer für grandios, überragend, perfekt und fehlerfrei ansieht. Nun setzen die psychischen Verarbeitungs- und Abwehrmechanismen eines Narzissten ein. Er beschuldigt, kritisiert, projiziert und entwertet den anderen, der es wagte, ihn zu bewerten oder einzuschätzen. Unter all den Abwehrschichten spürt er irgendwo das alte Schamgefühl, doch ist ein Narzisst völlig außer Stande, mit diesem Gefühl adäquat umzugehen. Er setzt alles daran, dass es nicht „entdeckt“ wird.

Zusammengefasst: Hochsensible und Narzissten haben oftmals ein ähnlich begründetes Schamgefühl aus der Kindheit, doch gelingt es dem Hochsensiblen aufgrund seiner Empathie und Selbstreflexion damit meist konstruktiv und eigenverantwortlich umzugehen, während ein Narzisst sich sofort in seiner ganzen Identität angegriffen fühlt und deshalb zu destruktiven, verteidigenden und manipulativen Methoden greift, um diese narzisstische Scham für ihn irgendwie erträglich zu machen.

3. Egozentrik (Selbstliebe)

Im hochsensiblen Kontext:

Zunächst einmal ist es wichtig, hier genau zwischen Egozentrik und einer gesunden und absolut notwendigen Selbstliebe zu unterscheiden. Wenn wir geboren werden, sind wir als Säuglinge alle egozentrisch, man könnte auch sagen narzisstisch, veranlagt. Ein Kleinkind kann gar nicht anders, als seine Umwelt aus einer rein egozentrischen Perspektive heraus zu betrachten. Seine Gehirnentwicklung lässt in diesem frühen Reifungsstadium keine andere Perspektive zu, als sich selbst als den Mittelpunkt der Welt zu sehen. Das Kleinkind ist nicht in der Lage, sich in die Perspektive eines anderen hineinzuversetzen. Es ist selbstsüchtig und das ist auch gut so, zumindest in dieser Phase der Persönlichkeitsentwicklung!

Verläuft die weitere Entwicklung normal, sprich, ohne gravierende Vernachlässigungen und Störungen, erweitert sich die Perspektive des Kindes auf sein Umfeld. Sein Verständnis, wer er ist, erweitert sich von der rein egozentrischen Sicht auf seine Familie, Spielkameraden, Verein, Freunde, etc. Man könnte diese erweiterte Wahrnehmung des Menschen auch eine ethnozentrische Sicht nennen. Geht die Entwicklung des Menschen weiter voran, springt sein Verständnis und seine Wahrnehmung auf die nächst höhere Entwicklungsstufe: eine weltzentrische Sicht. Er sieht nicht nur sich selbst, seine nächste Umgebung, sondern fühlt ein Verantwortungsgefühl für den ganzen Planeten, die Welt. Diese Sicht kann sich zum Beispiel durch Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Konsumreduktion oder einer Ernährungsumstellung ausdrücken.

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Für unsere Betrachtung ist es wichtig festzuhalten, dass eine ausgeprägte Egozentrik in einer frühen Phase unserer Entwicklung absolut richtig und wichtig ist. Doch was passiert, wenn wir in dieser Entwicklungsphase massive Beeinträchtigungen erleben, indem uns zum Beispiel von unseren Bezugspersonen nicht gestattet wurde, unsere Egozentrik auszuleben oder uns massive Schuldgefühle vermittelt wurden, sobald wir unsere kindlichen Bedürfnisse anmeldeten, uns dafür einsetzten? Nun, dann erlebt unsere Ich-Entwicklung erhebliche Einschränkungen. Ein Teil unserer Persönlichkeit bleibt regelrecht auf dieser Entwicklungsstufe stehen, und wartet fortan aus dieser Sackgasse befreit zu werden. In späteren Jahren sind wir zwar erwachsene Menschen, aber in einem Teil unserer Identität, der meist verdrängt wurde, lebt diese (ungelebte) kindliche Egozentrik weiter. Das ist der Grund, warum sich erfolgreiche und scheinbar selbstbewusste Menschen, oder auch der Lebenspartner, innerhalb von Sekunden in wutschäumende, cholerische, infantile Personen verwandeln können. Hier meldet sich das innere Kleinkind, das nun endlich seine nicht erlaubte Wut und Egozentrik aus den frühen Kindheitstagen ausleben möchte. Der Autor Veit Lindau* schreibt dazu: „Wer in seiner Kindheit kein gesundes Ego aufbauen konnte, steht als Erwachsener entweder auf Kriegsfuß mit seinen Bedürfnissen oder er kennt sie gar nicht.“

Aus meiner Wahrnehmung heraus, auch aus meiner eigenen Biographie, setzt hier genau das Problem von uns Hochsensible an. Viele von uns erlebten nämlich grobe Vernachlässigungen elementarer Grundbedürfnisse, angenommen zu werden in unserer Andersartigkeit (Ruhig, sensibel, zurückgezogen) als hochsensible Kinder. Wir konnten kein gesundes Ego aufbauen und deshalb müssen wir als Erwachsene erst wieder lernen, unsere elementaren Bedürfnisse wahrnehmen und kommunizieren zu können.

Das Erforschen und Ausdrücken der eigenen Bedürfnisse und auch Werte, hat rein gar nichts mit Egozentrik zu tun! Eher mit einem Ausdruck von gesunder Selbstliebe oder Egoismus. Doch sollten wir bei diesem Erforschen und Ausleben unserer Bedürfnisse sehr achtsam vorgehen. Veit Lindau* schreibt dazu weiter: „Um eine angeknackste Egozentrik zu kurieren, ohne deine Umgebung massiv zu belasten, brauchst du Bewusstheit, Kommunikation und Humor. Die Intelligenz des Lebens strebt nach Ausgleich und Heilung. Solange bestimmte Aspekte deiner Persönlichkeit unerlöst in den Kreisläufen deiner Vergangenheit parken, werden sie deine vertrauten Beziehungen immer wieder nutzen, um sich zu zeigen. Die Kunst liegt darin, diese Aspekte deines Wesens nach und nach zu erlösen, ohne ihnen dabei das ganze Spielfeld zu überlassen.“

Selbstliebe im positiven Sinne bedeutet, dich in deinem Wesen radikal kennenzulernen: deine Bedürfnisse, Werte, Wünsche, Träume, Tugenden, Ängste, Zweifel, Emotionen, Visionen. Mit diesem Erkennen wirst du unabhängiger von außen herangetragener Anerkennung, Lob und Tadel. Du weißt, wer du bist, was du willst und wie du es erreichst. Ein weiterer Ausdruck von einer wachsenden Selbstliebe besteht darin, dass du gelernt hast, deinem Umfeld gegenüber ehrlich und genau zu kommunizieren, was gerade in dir abläuft, indem du zum Beispiel deinem Partner offen anvertraust, dass du heute im Büro runter gemacht wurdest und nun gerne in den Arm genommen werden möchtest.

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Der entscheidende Unterschied zu einer zügellosen (infantilen) Egozentrik besteht aus meiner Sicht darin, dass du deine Vergangenheit und deinen Wunden bedingungslos anerkennst. Im Gegensatz dazu lebt ein Egozentriker quasi völlig ungezügelt, unverantwortlich und unreflektiert seinen nicht gelebten Egoismus aus frühen Kindheitstagen an seinem Umfeld aus – und tyrannisiert es dadurch maßgeblich.

 

Im narzisstischen Kontext:

Womit wir bei der Egozentrik und Selbstdarstellung eines narzisstisch geprägten Menschen wären. Einem Narzissten geht nämlich diese Eigenverantwortung, Mitgefühl und Reflexion völlig abhanden. Die Vernachlässigungen in dem oben skizzierten Kindheitsstadium waren so massiv, dass er den Schmerz der nicht erhaltenen Zuwendung und Liebe als Kleinkind nicht mehr ertragen konnte und deshalb seine Psyche als Schutzfunktion diesen Anteil aus seiner Wahrnehmung verdrängte. Doch wie wir aus der Psychoanalyse wissen, ist dieser abgetrennte Persönlichkeitsanteil nicht aus der Psyche verschwunden, sondern schlummert im Unbewussten weiter, quasi im Keller der Seele.

self-love-geralt-pixabayDer Selbstwert wurde derart deformiert, dass ein Narzisst nicht mehr in der Lage ist, sich die benötigte Anerkennung und Wertschätzung selber zu geben. Von nun an benötigt er ständig Lob, Aufmerksamkeit und Anerkennung von außen, weil er nur dadurch so etwas wie ein Selbstwertgefühl verspürt – nur eben ein völlig verzerrtes. Dadurch identifiziert er sich immer mehr mit diesem falschen (äußeren) Bild von sich selbst, und entfernt sich zusehends von seinem wahren Kern, der ja mit unermesslichen Schmerz verbunden ist. Aus dieser narzisstischen Egozentrik heraus resultiert auch die ständige Entwertung von anderen, da ein narzisstisch verwundeter Mensch dadurch betonen möchte, wie bewundernswert und großartig er selbst ist. Dieses Gefühl benötigt er wie das täglich Brot, um sich „gut“ bzw. wertvoll zu fühlen.

Nach dem Motto „Angriff ist besser als Verteidigung“ versucht ein Mensch mit einer narzisstischen Egozentrik andauernd „Präventivschläge“ zu setzen, um andere zu verletzen, bevor er selbst verletzt wird. Die Angst vor Verletzung ist seine treibende Kraft. Sie erinnert ihn unbewusst an seine Ohnmacht aus Kindheitstagen. Deshalb erniedrigt und verletzt er lieber andere, weil ihm das zum einem ein Gefühl von Macht und Wert gibt, und zum anderen versucht er damit seine innere Leere zu überdecken. Diese Leere, dieses Sichtbarwerden eines inneren Vakuums, davor fürchtet sich ein narzisstisch verwundeter Mensch am meisten.

Zusammengefasst: Selbstliebe bedeutet, dass du ein radikales JA zu dir als gesamte Persönlichkeit mit allen Licht- und Schattenseiten sagen kannst. Du bist in der Lage für dich und deine elementaren Bedürfnisse selbst zu sorgen, und erwartest dies nicht zwangsläufig von deinem Umfeld. Du spürst in dir eine starke innere Wurzel des Selbstwertes, die an ruhigen und stürmischen Tagen standhält. Diese Wurzel wiederzuentdecken und zu festigen, ist die Aufgabe von vielen hochsensiblen Menschen. Es ist ein Ausdruck von gesunder Selbstfürsorge und gleichzeitig ein Ausdruck von Verantwortung und Bewusstheit dafür dein Umfeld nicht verantwortlich zu machen. Genau dies macht aber ein ausgeprägter Narzisst (Egozentriker). Nach außen gibt es sich gern selbstbewusst, schlagfertig und cool. Er sucht gerne und oft den Mittelpunkt. Hinter diesem Auftreten (Maske) steckt aber kein gefestigter Wert. Er macht sein Umfeld für seine unerfüllten Bedürfnisse, Schmerzen und Wunden verantwortlich. Aufgrund eines verzerrten Selbstbildes überhöht er sich ständig selbst und erwartet ständige Bestätigung und Aufmerksamkeit von außen. Bleibt diese aus, reagiert er cholerisch, wütend und abwertend. Im Grunde stampft hier ein wütendes kleines Kind mit den Füßen auf dem Boden, und möchte endlich gesehen und gehört werden, was ihm in der dafür vorgesehenen Entwicklungsphase leider völlig verwehrt blieb.

Fazit

Ich beschäftige mich nun seit August diesen Jahres intensiv mit dem Thema Narzissmus. Im weitesten Sinne damit einhergehend mit der Bedeutung von Selbstliebe, Verantwortung und Mitgefühl. Ausgangspunkt für meine Forschungen war die Beobachtung, dass es im Internet unzählige Foren und Plattformen von „Opfern“ einer narzisstischen Persönlichkeit gibt. Neben dem Interesse an dem Erforschen meiner eigenen narzisstischen Anteile. Oftmals war mir diese Sicht aber zu einseitig. Wie so oft, wollte ich so unvoreingenommen wie möglich ein Thema von mehreren Seiten (Perspektiven) betrachten. Es war kein leichtes Unterfangen bis hierher. Doch spürte ich eine starke intrinsische Motivation, mich intensiv mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.

In einem Artikel auf narzissmus.net wurde die etwas provokante Frage gestellt, ob es sich bei den „Tätern“ wirklich um einen pathologischen Narzissten handelt oder einfach nur um ein Arschloch?! Auch ihm ist aufgefallen, dass die Anzahl der vermutlich betroffenen Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung deutlich geringer ist als die Anzahl der sogenannten „Opfer“. Er stellt dann die kritische Frage, ob es sich bei den „Partnern“ einer narzisstischen Persönlichkeit nicht oftmals selbst um bedürftige Personen handelt, zum Beispiel in Form einer Co-Abhängigkeit, weil er es für unmöglich hält, dass man als gesunder (gefestigter) Mensch solange mit einem Persönlichkeitsgestörten Menschen, wie einem Narzissten, in einer Beziehung bleibt.

Ich kann und will mir darüber kein abschließendes Urteil erlauben. Aus zahlreichen Erfahrungsberichten weiß ich, wie perfide und geschickt ein Narzisst sein Masken- und Manipulationsspiel aufrecht erhalten kann. Wahr ist sicherlich aber auch, dass zu einer Partnerschaft immer zwei gehören und dass eine Anziehung immer mit eigenen Anteilen zu tun hat. Vielleicht liegt die „Wahrheit“ irgendwo in der Mitte dieser Aussagen? Ich weiß es nicht!

Der Blogger David Mitzkat schrieb einen sehr fundierten und reflektierten Artikel über den Zusammenhang von Hochsensibilität und Narzissmus. In dem Artikel stellt er die interessante Frage, ob Hochsensible auch Narzissten sein können? Seine Antwort: „Instinktiv würden wahrscheinlich viele erstmal mit nein antworten. Das ist verständlich, da man Hochsensibilität unter anderem oftmals mit Empathie assoziiert, und wir oben festgehalten haben, dass sich eben sich Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung eben durch einen Mangel oder sogar Abwesenheit von Empathie auszeichnen. Nichtsdestotrotz können natürlich auch HSP in ihrer Kindheit derartig traumatisiert werden dass sie einen sogenannten kompensatorischen Narzissmus entwickeln. Viele der HSP-typischen Eigenschaften wie die Reizempfindlichkeit und sogar die Unsicherheit bleiben bestehen, werden aber konstant bekämpft und unterdrückt und durch  gegensätzliches Verhalten gegenkompensiert. Man ist immer noch hochsensitiv und auch narzisstisch, aber eben nicht auf die gleiche Weise wie beim oben beschriebenen Bild des malignen Narzissmus.“

Davids reflektierte Herangehensweise gefällt mir. Und deckt sich mit meiner Einschätzung und Erfahrung. Wenn ich eines gelernt habe seit August, dann dieses: Es gibt nicht den einen Narzissmus. Es gibt verschiedene Typen und Ausprägungen von Narzissmus, die von normalen bis zu anti bzw. dissozialen Persönlichkeitsmerkmalen reichen. Und genauso so schätze ich es auch bei uns Hochsensiblen ein. Aufgrund von erlebten Vernachlässigungen unserer hochsensiblen Ader können wir zwar ähnliche Charaktermerkmale (Kränkbarkeit, Scham, Egozentrik) wie Narzissten entwickeln, ja durchaus auch narzisstische Anteile in uns tragen, was aber noch lange nicht bedeutet, dass wir dadurch zu einer antisozialen und destruktiven narzisstischen Persönlichkeit werden.

Ich kann mir gut vorstellen, dass es Narzissten gibt, die sich als weitere Maskerade das Etikett „Hochsensibilität“ umhängen! Genauso kann es aber auch sein, dass es Hochsensible gibt, die sich zu sehr mit den Charaktereigenschaften eines Narzissten vergleichen, wobei es wohl mehr darum gehen würde, sich und seine Veranlagung mehr anzunehmen!

Letztlich kann diese Frage nur jeder für sich selbst beantworten. Wie des Öfteren schon erwähnt, plädiere ich immer wieder dazu, ehrlich mit sich selbst zu sein – mit seiner Anlage, Stärken und etwaigen Störungen – und sich mit jedem dieser Bereiche entsprechend auseinanderzusetzen.

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Trotzdem glaube ich, dass es einige  universell gültige Prinzipien gibt. Eines dieser Prinzipien ist ein radikales JA zu dir selbst – ohne dabei sofort Angst vor Selbstverliebtheit und Egoismus zu haben. Egoismus ist rücksichtslos. Selbstliebe nimmt Rücksicht. Veit Lindau beschreibt dieses JA sehr treffend mit diesen Worten: „Ein Ja! zu dir in dieser Radikalität ist ein revolutionärer Akt. Du stehst ab jetzt für bestimmte Spiele – privat, beruflich, gesellschaftlich – nicht mehr zur Verfügung. Du erlaubst dir, frei und groß zu denken. Du hast es nicht mehr nötig, dich für Anerkennung von außen zu verbiegen. Du jagst nicht mehr wie ein dummer Esel automatisch jeder Karotte hinterher, die dir andere vor die Nase hängen oder du selbst. Du lässt immer mehr los, was dich schwächt, und tust immer mehr von dem, was dich stärkt.“

Diese Selbstliebe ist aus meiner Überzeugung der Schlüssel zu allem: deiner Arbeit, deinen Beziehungen, deiner Sexualität, deinen Werten, deiner Freiheit und deinem Wirken in der Welt. Menschen, die sich radikal selbst annehmen und lieben, verschenken sich von ganz alleine. Sie sind mit sich im Reinen und schauen über den eigenen Tellerrand. Sie versprühen eine subtile Liebe und Verantwortung für alles Lebendige. Für das Leben. Sie wissen, was für sie wertvoll ist und sind dadurch weniger manipulierbar von außen: egal ob es sich dabei um den Partner, dem Chef oder einem charismatischen Politiker handelt. Ich bin davon überzeugt, dass diese radikale Selbstliebe und Verantwortung  im Zeitalter des Populismus, der Zerstreuung und der Individualisierung für jeden Einzelnen und für uns alle immer wichtiger wird.

Wie bist du bisher mit Kränkungen, Scham und Selbstliebe umgegangen?
Welchen Beitrag möchtest du leisten, um das Wahre, Gute und Schöne weiter in die Welt zu tragen?

 

 

 

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Quellennachweis:
www.hspdeutschland.com
www.narzissmus.net
www.umgang-mit-narzissten.de
www.umgang-mit-narzissten.de/arten-des-narzissmus

www.hochsensibel-test.de
www.prozessbegleitung.com
www.medizin-im-text.de

Bilder:
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Erstveröffentlichung am 27.11.2016 auf simplyfeelit.de