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Astrid Schneider

Lernen und Erkennen der Welt bei NB und HB

Das Wort LERNEN löst in mir immer noch ein unangenehmes Gefühl aus. Das Bild, was sich in mir gefestigt hat in all den Jahren hat nichts mehr mit Freude und Neugier zu tun. Lernen wurde zu muss, Bücher, lange Texte, ständige Wiederholungen, lange Zeit am Schreibtisch. Der Gedanke zum beklemmenden Gefühl ist ich kann nicht lernen, ich bin dumm, zu langsam und ich kann mich nicht ausdrücken. Das kommt durch „du musst schneller und mehr lesen, nur wer liest kann viel Wissen, du kommst sonst nicht hinterher; setz dich doch mal hin und lerne richtig; wieder nur eine 4 gib dir doch endlich mal einen Ruck und Mühe; ich weiß, dass du mehr kannst.“

Meine Gänsehautwörter LESEN-LERNEN-ZU LANGSAM haben heute lange nach meiner Schulzeit eine andere Bedeutung und das auch erst seit ein paar Monaten.

LESEN wird flüssiger und ist keine Qual mehr. Es gibt Bücher und Texte die mich interessieren. Meist sind es Sachbücher in denen ich in den Kapiteln springen kann, nicht zu Ende lesen muss, Dinge verstehen kann und Lust auf das Umsetzten und eigene Erfahrungen zum Gelesenen machen will. Wow, das Interesse ist so groß, dass die Mühseligkeit des Lesens nicht mehr zur Last fällt. Für mich ist das jetzt so in Ordnung. Vorher habe ich selbst bei Comics die großen Blasen übersprungen, die Geschichte versteht sich doch auch ohne die Texte. All die anderen Jahre habe ich durch ständiger aufmerksames Beobachten, Zuhören, Machen und Kombinieren gelernt und es hat wunderbar funktioniert. Nur in meinem Kopf war das weniger Wert als das Studieren mit Büchern. 

ZU LANGSAM löst sich für mich jetzt auch langsam auf. Ich brauch meine Zeit in Diskussionen, Fragen beantworten, Entscheidungen treffen, Erzählen und ich weiß auch warum. Mir geht so viel mehr durch Kopf und Herz als einem Normalbegabten. Zu einer klein wirkenden Frage ziehe ich alle mir bekannte Register gleichzeitig um die Frage wirklich präzise beantworten zu können. Dabei werden sogar Gefühle mit einbezogen. Dies benötigt Zeit und so bemerkte ich in der Schule oft nicht, dass der Rest der Klasse schon bei der nächsten Frage war. Langsam dafür sehr gründlich sage ich mir jetzt und kann drüber lächeln. Ich nehme mir heute sogar bewusst die Zeit um meine Gedankengänge zu beobachten und stelle immer wieder die enormen Gedankensprünge fest, die doch alle zusammen mit dem Thema zu tun haben. ZU LANGSAM kann für Hochbegabte auch ein momentanes Desinteresse an einem Thema liegen. Muss ein HB sich hier und jetzt mit einem vorgesetzten Thema befassen, das nun wirklich im Moment nicht mit dem Rest im Kopf zusammenpasst, dann stellt er ungewollt auf Durchzug, Standby, Stur. Hochbegabte sind sehr schwer von außen zu motivieren, die Lust und Begeisterung kommt aus ihm, um in ein Thema einzutauchen. Meist ist es wirklich eine Frage der Zeit, denn in seiner Natur liegt es alles ihm Mögliche über seine Umwelt und die Welt zu hinterfragen und zu verstehen. So ist es kaum verwunderlich, dass hochbegabte Schüler oft abwesend und desinteressiert wirken. Entweder ist es ihnen zu langweilig, weil sie sich mit dem Stoff schon auseinander gesetzt haben oder weil sie schlicht interessanterem im Kopf nachgehen.

Für mich ist es bis heute wichtig, das Gelernte in die Praxis umzusetzen. Was war ich glücklich in der 8. Klasse bei einer längeren Zugreise die Isolatoren an den Hochleitungen beobachten zu können. Sie waren nur da, doch in mir lief der komplette Physikunterricht ab und es machte klick. Die Isolatoren gehören jetzt zu meiner Vernetzung und wenn ich sie heute sehe steigt in mir diese Freude von damals auf den Vorgang verstanden zu haben.

Endlich habe ich verstanden, dass es für mich normal ist, ständig mehr wissen zu wollen, in Themen hin und her zu springen, Phasen in einer Thematik zu leben, denn es passiert mit allen Sinnen, bis es sich mir erschlossen hat, es zu mir gehört. Dann kann ein neues, vollkommen anderes Interesse auftauchen. Kommt es zum Austausch mit anderen über ein mir bekanntes Thema bin ich offen für neue Erkenntnisse. Es kann sogar sein, dass ein mir neues Argument besser in meine Vernetzung passt, die alten durch das neue ersetzt werden. Das kann sehr tief reichen, denn es soll ja mit dem Rest stimmig sein. So kommt es dazu, dass ich eine vollkommen neue Sichtweite auf Situationen entwickle über die andere dann staunen. Das ist meiner Meinung nach ein großer Unterschied zu Normalbegabten. Dort wird meist fest auf das alte erlernte bestanden, wird nicht dran gerüttelt und eventuell überdacht. Das heißt ja, dass ich vorher falsch gedacht habe, und das will doch kein NB, Fehler eingestehen. Für einen HB hat es nichts mit richtig oder falsch zu tun, sondern mit einer weiteren Erkenntnis und Entwicklung. Ein enormer Unterschied in meinen Augen, da dies das komplette Sein und Handeln also das Weltbild ausmacht. Gedanken dazu im selbständigen Kapitel.

Die Wörter „muss du lernen“ widersprechen dem HB. Seine Natur ist die Neugier. Die Welt ist so groß und es gibt unendlich viele Dinge zu beobachten, erforschen und zu verstehen, dass wenn einem HB die Ruhe und der Freiraum gegeben wird er nie seine Begeisterung am Verstehen der Umwelt verlieren wird. Nur die Einengung, zeitliche Regulierung von festen Themen und die Vorgabe, wie zu lernen ist können den HB abstumpfen lassen. Es bildet sich bei ihm dann schnell der Gedanke „ich bin falsch“, weil er sich in den Richtlinien eingeengt fühlt. HB, die dieselben Interessen haben kennen kein Konkurenzdenken in ihren Recherchen. Der Austausch und das mitteilen ist ihnen wichtig. Ihnen liegt daran ihr Wissen und ihre Erkenntnisse weiterzugeben. Alle sollen daraus ihren Nutzen ziehen dürfen. Das ist wieder ein wesentlicher Unterschied zu NB, die gerne alles für sich behalten und sich daran profilieren. Da sie so handeln, sehen sie den sich Mitteilenden HB meist als arrogant. Seine Absicht alle mit einzubeziehen kommt ihnen nicht in den Sinn.

Unser System des Lernens ist leider sehr eingeschränkt. Es geht um Wiedergabe des Inhalts, nicht um das Verstehen selbst. Jetzt wird dies gelernt und danach will ich sehen, ob du es genauso wiedergeben kannst, wie ich es dich gelehrt habe. Andere Lösungswege und Erkenntnisse werden ignoriert oder als falsch dargestellt. Selbst das Studium steckt voller Erwartungen von Wiedergabe, genauso, wie der Prof es vorgetragen hat. Er hat es schließlich schon vorher studiert und hatte damals alles richtig wiedergegeben. Es geht letztlich um den Schein und die Beurteilung, nicht um das Wissen.

Hochbegabten geht es um das Verstehen und um neue Erkenntnisse. Nicht selten brechen sie Ausbildungen und Studien ab, weil sie das für sich wichtigste dort mitgenommen haben und im Leben umsetzen können, dort eigene  Erfahrungen machen wollen um sich im Thema weiter entwickeln zu können und nicht beim Wissensstand der vergangenen Jahre stehen bleiben wollen. Der Abschluss bedeutet ihnen meist nicht viel, können auch ohne diesen weiterkommen.

Eine positive Veränderung in den Schulen finde ich das fachübergreifende Erarbeiten eines Themas. In Deutsch, Fremdsprache, Mathe, Kunst und NaWi wird zum Beispiel das Thema Getreide erarbeitet. Maße, Mengen, Getreidearten, Lebensmittel, Krankheiten, Länder, Wetter, Verarbeitung, Keimlinge beobachten und die Umsetzung einer vertikalen Bewegung in eine horizontale durch Zahnräder in der Mühle zeigen dem Schüler Zusammenhänge in vielen verschiedenen Bereichen des Lebens. So kommt man ans Verstehen. Ein hochbegabtes Kind denkt von sich aus in Zusammenhängen und kann in solch einem Unterricht seiner Neugier freien Lauf lassen und sich gut einbringen, da es jederzeit auf andere Bereiche greifen kann und muss dann nicht hören „das gehört jetzt nicht hierhin“.

 

Von Herzen Astrid